· 

Erfolgreich, hilfsbereit, selbstausbeuterisch: Das „Starke-Frauen-Syndrom“

Praxis für Coaching, Paartherapie und Psychotherapie Bergedorf Felicitas Römer. Empathisch, vertraulich, humorvoll.

Um es gleich zu sagen: Das „Starke-Frauen-Syndrom“ gibt es offiziell gar nicht. Es bezeichnet weder eine psychische Störung noch ein Krankheitsbild und schon gar keine Diagnose. Mit diesem Begriff möchte ich einfach ein Phänomen beschreiben, das mir in meiner Praxis immer wieder begegnet: Da kommen die interessantesten Frauen zu mir, die wirklich schon sehr viel in ihrem Leben erreicht haben. Sie sind erfolgreich in ihren Jobs, viele von ihnen managen noch einen komplexen Familienhaushalt und kümmern sich täglich geduldig um ihre Kinder. So ganz nebenbei engagieren sich einige von ihnen auch noch ehrenamtlich, kümmern sich um die anspruchsvollen Schwiegereltern und scheuen sich auch sonst nicht davor, Verantwortung zu übernehmen und Gutes zu tun.

 

Und sie halten es für absolut selbstverständlich, dass sie das alles schaffen!

Aber irgendwann geht ihnen einfach mal die Puste aus.

 

 

In (fast) jeder Superwoman steckt ein überfordertes kleines Mädchen

 

Dann melden sich plötzlich Ängste oder depressive Verstimmungen, eine diffuse Erschöpfung macht sich breit. „Warum?“, fragen sich dann viele. „Ich habe es bis jetzt doch auch immer geschafft, warum fällt es mir plötzlich so schwer?“ Ihr Selbstbild ist beschädigt, plötzlich „funktionieren“ sie nicht mehr so gut. Sie fallen vielleicht für ein paar Tage oder Wochen aus, benötigen ärztliche oder psychologische Hilfe oder landen sogar im Krankenhaus. Das alles ist für die erfolgreiche, starke und autonome Frau eine tiefe Kränkung (> das weiß ich übrigens auch aus eigener Erfahrung!).

 

Aber warum ist das so? Warum ist es so schwierig, als moderne Frau mal zu schwächeln? Darüber kann ich nur spekulieren, und natürlich sind die Ursachen dafür sehr unterschiedlich. Fest steht jedoch, dass von Frauen heutzutage gesellschaftlich unglaublich viel erwartet wird. Selbstverständlich sind sie noch überwiegend für Familie und Haushalt zuständig - auch wenn sich da glücklicherweise durchaus etwas bewegt! Aber auch beruflich erfolgreich zu sein, gehört mittlerweile auf die "unbedingt-to-do-Liste". Schlank und schön zu sein, ist natürlich auch nicht so ganz unwichtig. Ja, und bloß nicht jammern! Das ist uncool. Die moderne Frau leistet bitte viel und schweigt darüber am besten.

 

Wir leben ja insgesamt schon in einer völlig erschöpften Gesellschaft, nicht nur wegen Corona. Familien sind überfrachtet mit Ansprüchen, Terminen, Idealen. Kinder müssen oft funktionieren und mitlaufen. Paare meinen, sie müssten permanent glücklich miteinander sein und können Durststrecken kaum aushalten, weil das dem idealisierten Bild von Partnerschaft nicht entspricht. Männer leisten in der Regel unglaublich viel Erwerbsarbeit und fühlen sich mit den Arbeiten, die dann noch zu Hause auf sie warten, manchmal überfordert. Und toughe Frauen halten eben durch, solange sie irgendwie können.

 

Doch die besonderen „starken Frauen“, von denen ich jetzt spreche, sind für dieses „Aus- und Durchhalten“ ganz besonders prädestiniert. Sie passen wunderbar ins kapitalistische System und werden als „Powerfrauen“ idealisiert und bewundert.

 

Leider werden sie aber nicht wirklich gesehen. Denn in (fast?) jeder „Superwoman“ steckt ein kleines überfordertes Mädchen, dass es allen immer recht machen will. Und sich selbst dabei oft genug übersieht.

 

 

13 typische Angewohnheiten und Eigenschaften von Frauen, die für das "Starke-Frauen-Syndrom" anfällig sein könnten:

 

1.      Sie sind oft ehrgeizig und zielstrebig.

2.      Sie haben alles im Griff und unter Kontrolle, von der Orga des Haushalts bis hin zur Arztterminplanung der gesamten Familie.

3.      Sie agieren autonom, wirken selbstsicher und selbstbestimmt.

4.      Sie haben oft konkrete Vorstellungen davon, wie etwas zu sein hat und sind manchmal unflexibel, wenn etwas anders läuft als erwartet.

5.      Sie denken für andere mit und planen vorausschauend.

6.      Sie strotzen nur so vor Energie und sind ständig in Action (so lange es eben geht).

7.      Es fällt ihnen schwer, um Hilfe zu bitten. Das geht nämlich mit dem Gefühl von Schwäche und Inkompetenz einher.

8.      Sie wissen oft gar nicht genau, was sie eigentlich fühlen und brauchen, weil sie so sehr mit dem Außen und den Anderen beschäftigt sind. Selbstfürsorge ist für sie eher ein Fremdwort.

9.      Sie gehen sehr oft über ihre eigenen Grenzen hinweg, weil sie diese nicht gut spüren.

10.   Sie können oft nicht „Nein“ sagen, weil sie dann ein schlechtes Gewissen bekommen.

11.   Sie nehmen selten Rücksicht auf ihre eigene Befindlichkeit und haben kaum Mitgefühl für sich selbst, Ihre eigenen Nöte und Bedürfnisse.

12.  Sie wollen anderen nicht zur Last fallen.

13. Sie erwarten von sich selbst, immer gut zu performen, auch dann, wenn Sie eigentlich wissen, dass das tägliche Programm kaum zu bewältigen ist. Sie halsen sich zu viel auf und wissen das meistens auch, können es aber irgendwie nicht ändern.

 

 

Das sind natürlich nur meine persönlichen Beobachtungen und Eindrücke, und nicht alles trifft auf jede zu. Doch im Groben und Ganzen neigen die Powerladies eben dazu, sich selbst zu übergehen und Andere(s) in den Vordergrund stellen. Doch ein solch rücksichtloser Umgang mit sich selbst rächt sich mitunter. Irgendwann machen Körper und/oder Psyche nicht mehr mit, und zwar zurecht! Eine schleichende Depression oder somatische Beschwerden wie ständige Kopfschmerzen könnte man in diesem Kontext einfach mal als berechtigten Streik ansehen. Irgendein innerer Persönlichkeitsanteil merkt, dass hier zu viel Energie rausgeht, und zu wenig (keine Dankbarkeit, zu wenig Wertschätzung?) oder das Falsche reinkommt (noch mehr Ansprüche von anderen?). Er fängt an, das innere System zu boykottieren. Und das ist auch gut so! Denn dann drängen sich nach und nach die wirklich wichtigen Fragen auf:

 

Ø  Was fehlt mir, was brauche ich eigentlich?

Ø  Was ist mein innerer Antrieb, warum muss ich immer funktionieren?

Ø  Darf ich auch mal bedürftig sein und mich auch so zeigen?

 

 

Woher kommt das „Starke-Frauen-Syndrom“?

 

Meiner Erfahrung zufolge sind viele dieser starken Frauen sehr brave Töchter gewesen. Sie verfügten in der Regel schon sehr früh über ein sehr sensibles Gespür dafür, was Mama und Papa verkraften können - und was nicht (ein quengeliges, trauriges oder wütendes Kind empfinden viele Eltern als Zumutung!). Sie haben eine wichtige Rolle im Familiensystem übernommen (Vermittlerinnen, Trösterinnen, Stolzmacherinnen!), haben sich schon früh für vieles verantwortlich gefühlt und sind recht schnell selbständig geworden. Sie waren überwiegend pflegeleicht, haben sich übermäßig an die Bedürfnisse der anderen Familienmitglieder angepasst, ihre eigenen immer wieder zurückgestellt. Die meisten von ihnen haben recht gute Leistungen in der Schule erzielt und haben viel Anerkennung für ihr soziales und selbstloses Verhalten bekommen. Die Frage: „Wie geht es dir und was brauchst du gerade?“ ist ihnen in ihrer Kindheit eher selten gestellt worden. 

 

Kurzum: Sie haben früh gelernt, dass sie selbst sehr viel tun müssen, um dazuzugehören, Bestätigung zu bekommen und geliebt zu werden. Dass sie auf eine gewisse Weise stark sein müssen, also möglichst wenig bedürftig. Dass das auf Dauer anstrengend sein muss, ist - glaube ich - gut nachvollziehbar. Und wer das im Erwachsenenalter so weiter macht, steuert nahezu zwangsläufig auf ein Burnout zu.

 

 

Die Krise der starken Frau als wichtiger Reifungsprozess

 

Daher begrüße ich die Krise der „starken Frau“ stets sehr herzlich. Denn sie ist der Schlüssel für mehr Selbstmitgefühl, Selbstannahme und Selbstfürsorge. Natürlich gehört zu dem therapeutischen Prozess auch ein liebevoller Blick auf das bedürftige und so wahnsinnig bemühte innere Kind, der durchaus schmerzlich sein kann. Und dennoch handelt es sich immer um einen Reifungsprozess, der dafür sorgt, zu erkennen, dass auch eine selbstbewusste, erfolgreiche und moderne Frau bedürftig und auf andere angewiesen sein darf.

 

Text: (c) Felicitas Römer 2021

Foto: istock

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    Eva Engelken (Samstag, 04 Dezember 2021 18:51)

    Liebe Felicitas, trifft den Nagel auf dem Kopf! Viele Grüße, Eva

  • #2

    Petra Plaum (Sonntag, 05 Dezember 2021 12:09)

    Ja. Einfach nur ja. Was mich nun interessiert: Wie kommt diese Botschaft bei den anderen an? Bei denen, die starke Mädchen bzw. Frauen einfordern und ausnutzen? Bei Eltern, Partner*innen, Arbeitgeber*innen?
    Anders gefragt: Wie verhindere ich als Mutter und Businesspartnerin, bei Mädchen oder Frauen diese Selbstaufopferung zu triggern?
    Oder: Was hilft mir als starker Frau mit direktem Kurs auf einen Burnout, die Krise abzuwenden - wenn möglich, ohne Beziehungsabbrüche?