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Brüderchen und Schwesterchen: Der unterschätzte Einfluss von Geschwistererfahrungen auf unsere Partnerschaft

Tiefere Paarkonflikte haben oft ihren Ursprung in den jeweiligen Biografien der Partner*innen. Selten kommen wir auf die Idee, dass diese Probleme vielleicht etwas mit unseren Geschwistern zu tun haben könnten. Auch Paartherapeut*innen legen den therapeutischen Fokus meistens auf die kindlichen Erlebnisse mit den Eltern. Dabei lohnt sich auch oft ein Blick auf die früheren Geschwistererfahrungen. 

Praxis für Coaching, Paartherapie und Psychotherapie Bergedorf Felicitas Römer. Empathisch, vertraulich, humorvoll.

Haben Sie Geschwister? Und wissen Sie, was Sie in dieser Geschwisterbeziehung gelernt haben und wie sich das heute in Ihrem Leben bemerkbar macht? Nein? Vielleicht? Nur so ein bisschen? Dann befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Denn so geht es vermutlichen den meisten von uns. Oft wissen wir zwar, dass unsere Brüder und Schwestern wichtige Menschen in unserem Leben sind. Aber wie genau unsere Geschwistererfahrungen unser „Mindset“ und unsere Verhaltensweisen geprägt haben, ist uns selten bewusst.

 

Brüder und Schwestern haben eine ganz besondere Bedeutung für uns. Wir können sie uns nicht aussuchen. Wir müssen mit ihnen auskommen und vieles sogar mit ihnen teilen - sogar Mama und Papa! Sie sind einfach da, ob wir das nun gut finden oder nicht. Sie können tolle Spielkamerad*innen sein und ohne Ende nerven. Zwischen zärtlicher Zuneigung und aggressiver Ablehnung ist hier alles möglich, oft genug wechseln diese Gefühle mehrfach täglich. Eltern mit mehreren Kindern können davon täglich ein Liedchen singen.

 

 

Streiten lernen mit Brüdern und Schwestern

Geschwister können das eigene Leben bereichern und uns als Ressource dienen: Eine fürsorgliche Schwester oder ein solidarischer Bruder können und stärken und froh machen. Mit Geschwistern können wir uns toll zoffen, ohne Verlustängste entwickeln zu müssen. Kinder lernen mit ihren Geschwistern, sich für ihre Interessen einzusetzen, mal nachzugeben, mal zu „siegen“ und auch mal Kompromisse einzugehen, kurzum: Konflikte miteinander zu lösen.

 

Wer sich hingegen mit Bruder und Schwester in der Kindheit niemals gestritten hat - etwa um die belasteten Eltern zu schonen - , dem wird es auch im späteren Leben möglicherweise schwer fallen, Konflikte anzusprechen und angemessen zu lösen. Einfach, weil dafür die Übung und Erfahrung fehlen. Sollten Sie also dazu neigen, Konflikte in einer aktuellen Beziehung nicht anzusprechen oder nicht klären zu können, könnte es möglicherweise sein, dass Sie als Kind nicht erfolgreich mit Ihren Geschwistern gestritten haben.

 

Geschwisterliebe: Umgang mit Rivalität und Konkurrenz

Besonders wichtig für Geschwisterbeziehungen ist das Thema Rivalität. Jedes Kind kämpft auf seine Weise um die Aufmerksamkeit und Anerkennung der Eltern, und manche sind damit erfolgreicher als andere. Verteilen die Eltern ihre Zuwendung und Aufmerksamkeit einigermaßen gleichmäßig, dann ist der Kampf der Geschwister untereinander vermutlich nicht so ausgeprägt, wie wenn sich ein Kind permanent übersehen oder vernachlässigt fühlt. Diese Geschwisterkonkurrenz ist eine normale Begleiterscheinung, durch die wir vieles lernen können. Sie wird erst problematisch, wenn ein Kind dauerhaft den Kürzeren zieht und einem anderen gegenüber in der Gunst der Eltern deutlich unterliegt. Dann leidet nicht nur das betroffene Kind darunter, sondern zwangsläufig auch die Geschwisterbeziehung (Zitat einer Klientin: „Ich habe meine Schwester gehasst. Sie war immer besser in der Schule, sah hübscher aus. Meine Eltern hatten sie immer lieber als mich und haben mich das auch deutlich spüren lassen!“).

 

 

Alte Gefühle und Übertragungen in Partnerschaften

Werden solche - oder ähnliche - alten Konflikte nicht verarbeitet, können sie unsere Verhaltensweisen in Beziehungen stark beeinflussen, ohne dass wir das merken, auch noch im Erwachsenenalter. So kann es zum Beispiel sein, dass ein dominant  wirkender Kollege einen total auf die Palme bringt, man aber keine Ahnung hat, warum eigentlich. Erst im Nachhinein fällt einem dann vielleicht auf, dass er in uns dieselben Gefühle hervorruft wie damals ein größerer Bruder, der sich oft rücksichtslos verhalten oder uns herumkommandiert hat.

Oder wir finden eine junge Frau „doof“, einfach so, aus einem diffusen „Bauchgefühl“ heraus. Und erst später fällt uns auf, dass sie ähnliche Eigenschaften hat wie die als zickige und verwöhnt erlebte kleine Schwester. Bei diesen beschriebenen psychischen Prozessen handelt es sich um Geschwisterübertragungen.

 

Übertragungen dieser Art kommen häufig in unserem Alltag vor, werden aber selten als solche erkannt. Das ist schade, denn sie verstellen uns den Blick auf den Menschen, der gerade zum „Opfer“ unserer Übertragung wird. Ist unser Partner derjenige, auf den wir unsere alten Erfahrungen und Gefühle übertragen, wird dieser sich nicht richtig gesehen fühlen – er spürt auf eine subtile Weise, dass es gar nicht um ihn geht, kann dies aber oft nicht genauer definieren. Er fühlt sich womöglich einfach missverstanden und auf diffuse Weise nicht gemeint. Findet ein solches Übertragungsgeschehen in der Partnerschaft wiederholt und dauerhaft unreflektiert statt, kann das eine unheilvolle Dynamik in Gang setzen. Daher gilt es auch immer zu prüfen, ob sich hinter einer Paarproblematik möglicherweise alte, unbearbeitete Geschwisterkonflikte verbergen.

 

 

Bedingt die Geschwisterposition unsere Partnerwahl? 

Allgemein bekannt ist immerhin die Tatsache, dass Geschwistererfahrungen auch die Partnerwahl mitbestimmen können. Einige Autor*Innen gehen davon aus, dass dabei die eigene Geschwisterposition besonders ausschlaggebend sei. Und sie wagen sogar Prognosen darüber, zu welchem Partner ein Erstgeborenes, ein Einzelkind, ein Sandwichkind oder ein Nesthäkchen am besten passt.

 

Ich halte solche Konzepte für zu kurz gegriffen, denn es gibt viele weitere und auch wichtigere Parameter als die Geschwisterposition, die für die Geschwisterbeziehung und die spätere Partnerwahl von Bedeutung sind. Ich will damit nicht behaupten, die Position in der Geschwisterfolge spiele keine Rolle für unsere Leben, denn das tut sie mit Sicherheit. Es kommt aber meiner Ansicht nach viel mehr darauf an, wie wir uns in unserer Geschwisterrolle und -position gefühlt und was wir hier gelernt haben.

 

Ø  Was habe ich als Erstgeborene(r) gelernt? Hat es sich oft gut angefühlt, die/der Älteste zu sein? Welchen Status hatte ich? War es gut für mich, Verantwortung für meine kleineren Geschwister zu übernehmen oder hat mich das oft überfordert?

Wie war meine Beziehung zu den jüngeren Geschwistern, haben sie mich genervt? Oder waren sie eine Bereicherung? Oder beides? 

 

Ø  Wie war es für mich, die/der Zweitgeborene zu sein? Musste ich mich verrenken und vermitteln? Oder war es von Vorteil, sich mal nach „oben“ und mal nach „unten“ orientieren zu können? Oder alles gleichzeitig?

 

Ø  Und war ich als letztes Kind wirklich das Verwöhnteste? Hatte ich tatsächlich mehr Vorteile als meine Geschwister, wie diese oft behaupten? Oder hatten meine Eltern eigentlich keine Energie mehr für mich und haben mich einfach so laufen lassen, weil sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren? Mochte ich meine älteren Geschwister oder eher nicht so?

 

 

Die eigenen Geschwistererfahrungen erforschen

Sie sehen schon: Geschwisterrollen und Geschwisterbeziehungen sind ein hochkomplexes und individuelles Thema. Wenn wir auf der Suche danach sind, was wir in unserer Kindheit mit unseren Geschwistern gelernt haben, hilft uns die klassische geschwistertypologische Einteilung nur wenig. Sinnvoller ist es, einen genaueren Blick auf das individuelle Erleben als Bruder als Schwester zu werfen, zum Beispiel mithilfe folgender Fragen:

 

 Ø  Welche Rolle(n) habe ich in unserem Geschwistersystem oft und gerne übernommen (Beschützer/in, Vermittler/in, die/der Kleine etc.)? Was war das Gute daran? Was habe ich in dieser Rolle gelernt? Welche Fähigkeiten habe ich dadurch verfeinert? Wende ich einige von diesen Fähigkeiten jetzt in meinem Beruf und meinem Privatleben an?

 

Ø  Wie habe ich meine Geschwister erlebt? Was war schön, was war nervig? Was habe ich an meinen Geschwistern geliebt und was gehasst?

 

Ø  Was habe ich durch mein gegengeschlechtliches Geschwister gelernt („Jungen sind…“, „Mädchen sind….“)? Inwiefern hat das meinen Blick auf das andere Geschlecht geprägt? Und was könnte das mit meiner Partnerwahl zu tun haben?

 

Ø  Wie habe ich Streit mit meinen Geschwistern erlebt? Konnte ich mich auch mal durchsetzen? Wer war dominant, wer oft unterlegen? Ging es fair zu oder auch mal fies? Und wie ist mein Streit- und Konfliktverhalten heute?

 

Vielleicht finden Sie ja ein paar wichtige Hinweise, die mit Ihren aktuellen Paarproblemen zu tun haben könnten. Und wenn nicht, dann haben Sie sich immerhin ein bisschen mit Ihren Geschwistererfahrungen beschäftigt. Kann auch nicht schaden. :-)

 

 

Text: Felicitas Römer (c) 2021

Foto: Pixabay 

 

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