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Schamlosigkeit und Beschämung: Warum Cybermobbing vernichtend sein kann und wie man sich dagegen wehrt

Cybermobbing – das ist alter Wein in neuen Schläuchen. Denn Mobbing zielt immer darauf ab, eine Person nachhaltig zu demütigen, auszugrenzen und fertig zu machen. Das Internet macht es den Täter*innen jedoch besonders leicht: Schnell ist ein despektierliches Foto gepostet und eine demütigende WhatsApp verschickt, im Netz verteilt sich alles rasant, und das mit dem Löschen klappt auch nicht immer so gut. Das Schwierigste ist aber, dass die Opfer sich schämen. Denn das stärkt die Macht der Täter*innen. 

Praxis für Coaching, Paartherapie und Psychotherapie Bergedorf Felicitas Römer. Empathisch, vertraulich, humorvoll.

„Ich habe niemanden. Ich brauche Euch. Mein Name ist Amanda Todd.“ Das waren die letzten öffentlichen Worte einer 15-Jährigen Kanadierin – handschriftlich verfasst auf einem Karteikärtchen. In ihrem viral gegangenen YouTube-Film beschrieb das Mädchen acht schwer erträgliche Minuten lang ihre Leidensgeschichte. Alles begann, als sie zarte 12 Jahre alt war. Sie chattete mit einem (vermeintlichen) Verehrer, entblößte dabei in einem Anflug von Unbedachtheit ihre Brust vor der Webcam. Nun nahm das Drama seinen Lauf. Der Mann machte einen Screenshot, erpresste sie damit und stellte es schließlich online. Als wäre das nicht Schmach genug, erntete das Mädchen nun zusätzlich den Hohn und Spott ihrer Mitschüler/innen. Nach einem gescheiterten Suizidversuch und vielen psychischen Krisen schickte sie mit ihrem Video einen letzten stummen, eindringlichen Hilferuf in die virtuelle Welt. 

 

Knapp vier Wochen später nahm sich das Mädchen das Leben. Es war das Jahr 2012. Die Welt reagierte entsetzt. Gedenkfeiern wurden veranstaltet, Politiker traten auf den Plan, Aktionspläne gegen Cybermobbing wurden geschmiedet. Der Täter wurde gefasst und später zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Geholfen hat das dem Opfer leider nicht mehr.  

 

Wir werden nie erfahren, ob Amanda Todds Suizid möglicherweise noch andere Gründe hatte. Und selbst dann bliebe unumstritten, dass ihre beschämenden Cybermobbingerfahrungen maßgeblich an ihrer Verzweiflung beteiligt gewesen waren. In dieser Dramatik mag Amanda Todds Schicksal ein Einzelfall sein, als Cybermobbingopfer ist sie es allerdings nicht. Auch heute noch bringen Mobbing- und Cybermobbingerlebnisse viele Jugendliche an den Rand ihrer Kräfte, auch in Deutschland. Laut einer JIM Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest (mpfs) gaben immerhin 19% aller Jugendlichen an, über sie seien schon falsche Informationen oder Beleidigungen im Internet verbreitet worden. Knapp jeder Fünfte ist also mit dem Thema Cybermobbing schon mal konfrontiert worden. Jungen sind dabei mit 22% etwas häufiger betroffen als Mädchen (15%). 11% der Befragten gaben an, dass peinliche oder beleidigende Fotos oder Filme von ihnen ohne ihr Einverständnis veröffentlich wurden. Die Studie konnte keine Hinweise darauf finden, dass die Zahl von Cybermobbing-Vorfällen in den letzten Jahren dramatisch gestiegen sei. Vielmehr habe sie sich auf gleichen Niveau gehalten. 

 

Kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen. Immer noch wird die Gefahr von Cybermobbing unterschätzt. Immer noch schauen zu viele Menschen weg, wenn im Internet Hass ausgeschüttet wird, wenn jemand mit Häme überzogen oder schlichtweg gedemütigt wird. Viele Jugendliche leiden unter Gängeleien im Internet, unter „Hater“-Kommentaren, Anfeindungen und Ausgrenzungen in Gruppenchats. „Du fette Kuh“ gehört da sicher noch zu den harmloseren Beleidigungen. Oft heißt es auch ganz direkt: „Bring dich um, du Loser!“ Der verbalen Aggression im Netz sind keine Grenzen gesetzt – vor allem, wenn man sich problemlos anonym hinter einem Fake-Account verstecken kann.  

 

Dabei sind es gar nicht ausschließlich Jugendliche, die zu Cybermobbingopfern werden. Einer Untersuchung des „Bündnisses gegen Cybermobbing“ zufolge waren 30% Prozent von ca. 6000 befragten Erwachsenen schon einmal Mobbingopfer, die meisten von ihnen am Arbeitsplatz. Immer öfter wird auch in der jungen Erwachsenengeneration über das Smartphone und Internet gemobbt. Die Folgen sind fatal. Denn Mobbing macht auf Dauer krank. „Mehr als jedes zehnte Opfer stuft sich sogar als suizidgefährdet ein. Auf Deutschland bezogen sind das fast 2,5 Millionen Menschen!“, lässt das „Bündnis gegen Cybermobbing“ verlauten. Auch der der wirtschaftliche Schaden durch Mobbing und Cybermobbing sei nicht zu unterschätzen: „Die mit Mobbingvorfällen direkt verbundenen Krankheitsfolgekosten für deutsche Unternehmen belaufen sich auf ca. 5 Milliarden Euro im Jahr“, schreibt der Verein auf seiner Homepage www.buendnis-gegen-Cybermobbing.de.

 

Ein fieser Post auf Facebook, eine Beleidung per WhatsApp: Per Internet geht das mittlerweile ganz fix, die Hemmschwelle ist gering. Cybermobbing – das ist systematische Quälerei und Demütigung auf virtuellem Wege. Die daraus resultierenden seelischen Verletzungen sind für den Betroffenen jedoch sehr real. Mobbing und Cybermobbing lassen sich heutzutage kaum noch auseinanderhalten, beide sind miteinander verschränkt. Kein Wunder, wo doch 90% aller Kinder über 12 Jahren über ein Smartphone und den entsprechenden Apps wie WhatsApp, YouTube und Instagram verfügen – und die meisten Grundschüler mittlerweile auch schon online sind. Der größte Unterschied zwischen klassischem Mobbing im „real life“ und Cybermobbing mag darin liegen, dass ein Urheber im Netz nicht so schnell auszumachen ist. Manchmal auch gar nicht. Der ursprüngliche Täter bleibt ein Unbekannter, eine fiktive Größe. Diese Ungewissheit ist für das Opfer ebenso verstörend, wie die daraus entstehenden Ängste massiv sind. Eine weitere besondere Problematik des Cybermobbings liegt darin, dass unerwünschte Posts nicht so leicht zu löschen sind, wie das zu wünschen wäre. Auch wenn Google despektierliche Inhalte durchaus rasch entfernt, so kann es doch sein, dass sie sich schon in andere virtuelle Kanäle verteilt haben. Das Netz ist gnadenlos, es vergisst nichts.

 

Der Leidensdruck der Cybermobbing-Opfer ist groß. Viele werden depressiv, zeigen Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung wie Übererregbarkeit oder chronische Nervosität, Schlafstörungen, Albträume, Angstzustände und Panikattacken. Manche fangen an, sich selbst zu verletzen, oder sie entwickeln Essstörungen oder Suchtverhalten. Untersuchungen belegen, dass jugendliche Mobbingopfer auch später im Erwachsenenalter noch überdurchschnittlich häufig unter Depressionen leiden.

 

Und dann ist da noch die Scham, diese tiefe und unerträgliche Scham des Opfers. Sie verhindert oft, dass der/die Betroffene sich jemandem anvertraut und dem Elend ein Ende gesetzt werden kann. So wie Amanda Todd sich im wahrsten Sinne des Wortes „zu Tode schämte“, weil ihre nackte Brust öffentlich zu sehen war. Auf eine solche Weise in seiner Intimsphäre und Integrität verletzt zu werden, ist etwas zutiefst Beschämendes. Das kann auch gestandene und selbstbewusste Menschen komplett aus der Bahn werfen. 

 

Allein das Bewusstsein, zum Opfer gemacht worden zu sein, ist schambesetzt. Das ist auch der Grund, warum so viele Opfer schweigen. Die Scham über das Erlittene macht uns stumm, wir wollen im Erdboden versinken, uns vor der Welt verstecken. Scham macht uns einsam und hilflos, sie droht uns zu vernichten. Anders als Wut, die es uns erlauben würde, in die Welt hinausbrüllen, wie ungerecht wir uns behandelt fühlen. Es ist kein Zufall, dass Amanda Todd in ihrem Video nicht spricht. Es ist die Scham, die sie stumm bleiben lässt.

 

Oft genug glaubt das Opfer, es sei selbst schuld an seiner Misere: „Was ist falsch an mir, warum trifft es mich?“ ist eine quälende Frage, die sich fast jedes Mobbingopfer stellt. „Wenn alle auf mir herumhacken, kann ich dann trotzdem okay sein?“ Doch es liegt nicht am Opfer. Jede(r) kann zum Opfer werden, wenn andere gemeinsam beschließen, ihn bzw. sie zum Opfer zu machen. 

 

Genauso wie jede(r) zum Täter werden kann. Cybermobbing kann man alleine betreiben, wie der Erpresser von Amanda Todd. Meistens rotten sich aber Mehrere  zusammen, denn zusammen ist man stärker, hat mehr Macht. Gruppendruck und Angst spielen hierbei eine Rolle: Man möchte ja dazugehören, und nicht selbst zum Ausgestoßenen werden. Da macht man lieber mit, oder schweigt zumindest. Mädchen sind dabei übrigens genauso oft beteiligt wie Jungen. Oft entsteht unter den Tätern eine Gruppendynamik, die - einmal angestoßen - kaum noch unterbrochen werden kann. Ein Shitstorm gewinnt deshalb so an Fahrt, weil die „Hater“ sich gegenseitig bestärken, anheizen, übertrumpfen. Das führt zu einer kollektiven Enthemmung: Empathie und Mitgefühl setzen komplett aus. So schamlos sich die Täter nun gebärden, so beschämt fühlt sich das Opfer.

 

Was dem Opfer letztlich bleibt, ist seine Scham zu überwinden. Die Täter als Täter zu benennen. Die Schuld demjenigen geben, dem sie gehört. Wie schwer das sein kann, weiß jeder, der so etwas schon einmal durchgemacht hat. Deshalb brauchen die Opfer Hilfe von anderen Menschen, ihr Gehör, ihre Solidarität und tatkräftige Unterstützung. Erste Anlaufstellen für betroffene Jugendliche können anonyme Internetangebote sein (siehe unten). Eltern und Lehrer sollten aufmerksam werden, wenn ein Kind sich deutlich zurückzieht, Schulunlust entwickelt, seltener als sonst auf sein Handy sieht. Wer Mobbingopfern helfen will, muss deren Not aushalten, deren Scham mittragen und ihre Suizidfantasien ernst nehmen. Für nahe Angehörige ist das oft schwer erträglich, daher ist es für die Betroffenen manchmal hilfreicher, sich an entsprechend geschulte Berater zu wenden. Diese haben oft einen klareren Blick auf die Umstände, können souveräner auf die Nöte des Opfers eingehen und ganz praktische Ratschläge für das weitere Vorgehen geben. 

 

 

Text: (c) Felicitas Römer 2020

Foto: Pixabay


7 Tipp: Das sollten Sie tun, wenn Sie oder Ihr Kind Opfer von Cybermobbing geworden sind

1. Nennen Sie das Thema offen beim Namen

Beschönigen Sie nichts, sprechen Sie offen darüber. Überwinden Sie Ihre Scham und stärken Sie Ihr Kind. Das Opfer trägt keine Schuld, die Täter tun es! 

2. Sichern Sie das Beweismaterial

Machen Sie Screenshots der geposteten diskreditierenden Fotos oder beleidigenden Chats. Nur so können Sie oder Ihr Kind im Zweifel nachweisen, dass Cybermobbing tatsächlich stattgefunden hat. 

3. Wenn Sie selbst betroffen sind: Sprechen Sie den Täter/die Täterin an

Das geht zumindest dann, wenn Sie Sie diese kennen. Am besten mit Unterstützung. Manchmal unterschätzen die Täter die Wirkung ihrer Worte und Taten und können durch eine Konfrontation in ihrem Handeln gestoppt werden.

4. Wenn Ihr Kind betroffen ist: Setzen Sie Lehrer als auch Schulleiter von den Vorgängen in Kenntnis

Fordern Sie eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Thema Mobbing und Cybermobbing in der Schule ein. Holen Sie sich die Unterstützung von Elternvertretern und anderen Eltern. Wenn das alles nicht hilft: Reichen Sie eine Dienstaufsichtsbeschwerde bei der zuständigen Schulbehörde ein. Diese ist verpflichtet, darauf zu reagieren. In manchen Fällen hilft allerdings tatsächlich nur ein Schulwechsel. 

Machen Sie das aber bitte alles in Absprache mit Ihrem Kind, und nicht einfach über seinen Kopf hinweg. 

5. Sorgen Sie dafür, dass unangemessene Fotos (nach der Beweissicherung) von dem jeweiligen Provider gelöscht werden

Dazu findet man auf jeder Plattform einen „Melde-Button“, mithilfe dessen man unangemessene Inhalte melden und löschen lassen kann. Gehen Sie aber davon, dass sich das Material trotzdem noch irgendwo im Internet befinden kann. Das Netz vergisst nichts. 

6. Melden Sie schwere Cybermobbingvorfälle wie Erpressung, Mordandrohungen, Aufforderungen zu Gewalt etc. bei der Polizei.

in Staatsanwalt muss den Vorgang dann prüfen und entscheiden, ob der Fall vor Gericht geht. Bei Mobbing können Tatbestände wie Beleidigung, Üble Nachrede, Recht am eigenen Bild, Verleumdung, Nötigung & Bedrohung etc. festgestellt werden. Sind die Täter allerdings unter 14 Jahren, können Sie rechtlich nicht belangt werden. Erst ab 16 greift das Jugendstrafrecht. 

7. Nehmen Sie professionelle Hilfe in Anspruch

Psychotherapeutische Unterstützung oder entsprechende Coachings können helfen, das oft als traumatisch erlebte Geschehen besser zu verarbeiten und wieder auf die Füße zu kommen.


Erste Hilfe für Cybermobbingopfer und deren Angehörige

Nummer gegen Kummer

Die Notrufhotline des Kinderschutzbundes. Tel.: 0800 111 0333 oder vom Handy: 116 111, Montag bis Samstag 14.00 - 20.00 Uhr, auch Online-Beratung 

www.nummergegenkummer.de


Juuuport

Kostenlose und ehrenamtliche Hilfe bei Cybermobbing, WhatsApp-Stress & Co: Onlineberatung von Jugendlichen für Jugendliche.

www.juuuport.de


Telefonseelsorge

Kostenlose Mail- und Chatberatung in Lebenskrisen und bei Suizidgedanken.

Kostenfreie Telefonhotline: 0800/111 0 111; 0800/111 0 222; 116 123 

www.telefonseelsorge.de


Weißer Ring

Kostenlose telefonische (auch anonyme) Beratung von 7-22 Uhr (Tel.: 116 006), sowie online als auch persönlich vor Ort. 

www.weisser-ring.de


Bundeskonferenz für Erziehungsberatung für Jugendliche

Anonymes und kostenfreies Beratungsangebot für Jugendliche von der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung: Mailberatung, Einzelchat, Gruppenchat und Forum

https://jugend.bke-beratung.de


Bundeskonferenz für Erziehungsberatung für Eltern

Anonymes und kostenfreies Beratungsangebot für Eltern von der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung: Mailberatung, Einzelchat, Gruppenchat und Forum

https://eltern.bke-beratung.de


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